In freundschaftlicher Zusammenarbeit mit

Im Gespräch mit dem Dirigenten Manfred Honeck

Manfred Honeck befand sich im vergangenen Februar in den USA. Über Zoom konnten wir uns mit ihm unterhalten.

Lieber Herr Honeck, Sie sind nun seit einem ganzen Jahr der Abwesenheit wieder zurück bei Ihrem Orchester in Pittsburgh. Haben Sie diese Zeiten der Einschränkung auch als neue Erfahrung positiv für sich nutzen können?

Ja! Ich bin von Grund auf ein sehr hoffnungsvoller Mensch und bin optimistisch eingestellt. Ich denke, dass jeder Mensch, Künstler oder nicht, sich in diesen schwierigen Zeiten gewisse Dinge zurechtlegen muss. Einerseits die Frage: „Wie geht es weiter?“, aber auch: „Was kann ich von meiner Seite aus tun, um Dinge zu ändern?“, „Wo stehe ich und wohin gehe ich?“. Es tut ehrlich gesagt gut, so eine Bestandsaufnahme zu machen!

Etwas, das beispielsweise stärker geworden ist, ist Dankbarkeit darüber, was man erreicht hat, was man tun und wie man leben darf. Ich habe mir kürzlich einige Briefe meiner Mutter, die 1965 jung verstorben ist, ansehen dürfen. Diese Briefe hat sie zwischen 1942 und 1945 verfasst. Darin habe ich gelesen, dass meine Mutter meinem Vater, der in Kärnten in den Dienst gestellt worden war – er musste Gottseidank nicht an die Front – Äpfel geschickt hat. Dass man Äpfel geschickt hat! Und wir regen uns manchmal auf, wenn wir gewisse Dinge nicht so leicht bekommen. Ein neuer Blick hilft dankbar zu sein, auch wenn es momentan ein bisschen schwieriger geht. Dann stellt sich eine echte Freude ein.

Neben der Hoffnung, dass das Virus natürlich endlich bald verschwindet würde ich mir auch wünschen, dass wir jetzt vielleicht Dinge verbessern können, die wir vorher nicht so gut gemacht haben – zum Beispiel die „Überreizung“ in unserem Musikmarkt, die mir große Sorgen gemacht hat. Da ging es nicht mehr um die hohe Kunst, sondern darum, wie man sich darstellt und welche Mechanismen man befolgen muss, um als Künstler noch angesehener zu sein oder noch mehr Geschäft machen zu können. Das sind fast unanständige Verhaltensweisen, die in den letzten 20 bis 30 Jahren entstanden sind. Vielleicht haben wir jetzt die Chance, uns wieder ein bisschen auf das zu besinnen, was wir so sehr lieben – nämlich die Musik selbst, unsere hohe Kunst.

Sie sind ein Familienmensch mit 6 Kindern. Wie haben Sie in normalen Jahren Ihr Familienleben mit der internationalen Karriere unter einen Hut bringen können?

Das ist eine sehr wichtige Frage für mich gewesen, denn ich liebe Kinder und die Familie ist mir ganz wichtig. Aber in meinem Beruf weiß ich, dass das nie funktionieren würde, wenn meine Frau nicht zu mir gestanden hätte und wir nicht ein Eheleben führen würden, das auf gegenseitigem Vertrauen und Verständnis gebaut ist. Die Entbehrungen sind sehr stark gewesen, denn in dem kleinen Dorf in Vorarlberg, in dem wir leben, gibt es kein Orchester, bei dem ich Chef sein könnte. Das heißt, ich muss in die großen Städte fahren oder fliegen, wodurch ich meine Familie wochenlang nicht sehen kann. Das war für uns manchmal etwas schwierig. Aber man stellt sich darauf ein und die Kinder kennen den Vater eben nur so, dass er dann mal nach Hause kommt, „Grüßgott“ sagt und schon ist er wieder weg! Gottseidank gibt es in unserer heutigen Zeit Facetime oder Zoom. Stellen Sie sich vor: Antonín Dvořák flog nicht nach Amerika, sondern er musste ein Schiff nehmen, blieb jahrelang dort und hatte überhaupt keinen Kontakt mit seinen Kindern! Da gab es nichts, außer Briefe zu schreiben. Insofern schätze ich die neuen Technologien sehr.

Im vergangenen Jahr gab es auch Zeiten, in denen ich zwei bis drei Wochen am Stück zu Hause sein durfte. Das habe ich sehr genossen. Man könnte sich fast daran gewöhnen!

Eine Digitalisierung findet zurzeit ja auch verstärkt in der klassischen Musik statt. Glauben Sie, dass die Pandemie die Kultur auf diese Art sehr verändern wird?

Das ist natürlich schwer einzuschätzen, aber etwas, was ich jetzt erfahre, ist für mich ganz deutlich zu sehen: Wir alle machen Livestreams und ich finde das ganz wichtig und eine tolle Möglichkeit, präsent sein zu dürfen und unseren Zuschauern etwas mitgeben zu können, damit sie nicht allein gelassen werden. Aber ich merke auch, dass das ein Notzustand ist. Wir brauchen das Publikum und das Publikum braucht uns. Viele meiner Kollegen sagen: „Was ist das, ohne Publikum aufzutreten?“. Manchmal applaudieren die Orchester beim Livestream, damit irgendein Applaus und Leben da ist! Und ich habe das Gefühl, das Publikum möchte uns live hören und diese Erfahrung des Moments machen. Sie können ein Bild hundertmal am Tag anschauen. Bei der Musik ist das anders: wenn eine Note gespielt ist, ist sie schon Vergangenheit. Das Live-Erlebnis in einem Konzertsaal ist unaustauschbar und erfüllt uns mit großer Freude, Dankbarkeit und Hoffnung.

Sie haben in einem Interview einmal gesagt, dass jedes Orchester eine individuelle Persönlichkeit hat. Wie würden Sie die Persönlichkeit der Münchner Philharmoniker beschreiben und was macht Ihnen in der Zusammenarbeit mit ihnen besondere Freude?

Also ich möchte ganz gleich betonen: sie sind ein großartiges Orchester, die Münchner Philharmoniker! Und überall, wo großartige Musiker spielen, bin ich mit Feuer und Flamme dabei! Ich schätze dieses Orchester gewaltig. Es ist wunderbar, wie sie musizieren und technisch einfach auf so hohem Niveau sind – das ist keine Frage. Wenn wir von spezifischem Klang reden, hat der große Celibidache, der lange Chef war, natürlich über Jahre hinweg den Klang und Geist des Orchesters geprägt. Jetzt ist es etwas ganz Besonderes, dass Valery Gergiev mit seiner russischen Seele und einmaligen musikalischen Leidenschaft den Stempel mitaufdrückt.

Sie sind bekannt als ein bedeutender und begeisterter Richard Strauss Dirigent. Was war Ihre erste Begegnung mit Strauss?

Meine erste Begegnung mit Strauss in der Opernwelt war, als ich 1983 das Probespiel für die Wiener Philharmoniker gewonnen habe. Da habe ich eine Oper nach der anderen spielen können – und fürchten gelernt vielleicht auch! Es gab unspielbare Passagen, das war unglaublich. Aber natürlich hatten wir im Musikgymnasium schon die Tondichtungen, zum Beispiel Till Eulenspiegel, durchgenommen. Das war meine erste Berührung mit Strauss. Im Jugendorchester habe ich dann als Streicher (damals als 2. Geiger) das Hornkonzert gespielt. Strauss ist für mich einer der ganz großen, uneitlen Komponisten. Ich schätze ganz besonders alle seine Tondichtungen – was für musikantische und hervorragende Instrumentierungskunst er beherrscht hat!

Nachdem Sie Bratschist im Wiener Staatsopernorchester und bei den Wiener Philharmonikern waren, begann 1987 Ihre Karriere am Dirigentenpult. Was hat Sie dazu bewegt, Dirigent zu werden und wann haben Sie sich für diesen Weg entschieden?

Also ich habe schon sehr früh – als ich 15 Jahre alt war oder sogar noch jünger – gespürt, dass ich mir vorstellen könnte, Dirigent zu werden. Unsere Familie war nicht sehr reich - im Gegenteil, wir mussten wirklich jeden Schilling zählen. Aber ich durfte damals im Neujahrskonzert in Wien auf einen Stehplatz gehen und erinnere mich noch sehr gut daran: Da standen vielleicht 200 Leute und ich – der ja damals nicht sehr groß war – inmitten dieser Erwachsenen. Da hat mich der Billeteur herausgefischt und vor das Geländer gestellt! Also hatte ich die „pole position“! So durfte ich dann Willi Boskowsky und die Wiener Philharmoniker erleben. Als ich danach nach Hause ging, wollte ich gleich vorm Spiegel dirigieren und schauen: Wie ist denn das überhaupt? Der fuchtelt da herum…

Ich hatte keine Ahnung von dem Beruf, aber seit da an verspürte ich einfach eine Sehnsucht, die mich immer begleitet hat. Ich habe mich dann zunächst auf das Geigenspiel konzentriert, und danach auf die Bratsche. Als ich 1983 das Probespiel bei den Wiener Philharmonikern gewann, war ich natürlich unheimlich dankbar und hätte mir auch vorstellen können, bis zur Pension in diesem wunderbaren Orchester zu spielen!

Doch immer noch war das Dirigieren im Hinterkopf. Ich durfte nebenbei Erfahrungen im Dirigieren sammeln und ausprobieren, war aber noch weit davon entfernt, dass ich davon auch hätte leben können! Ich merkte aber bald: beides gleichzeitig, Dirigieren und Dienst zu machen bei den Wiener Philharmonikern, ging nicht. Die Entscheidung kam, als Alexander Pereira mich 1990 fragte, ob ich mit ihm nach Zürich ans Opernhaus gehen wolle. In meinem Herzen wusste ich sofort: das ist jetzt der Zeitpunkt. Ich möchte Dirigent werden. Wenn ich es nicht jetzt mache, wann dann?

Ich würde es jedem Menschen empfehlen, dass er nach seinem Herzen entscheidet. Wenn er spürt, dass etwas sein muss, dann soll er es auch tun.

Sie sind Dirigent, waren Bratschist im Orchester und Sie komponieren. Haben Sie einen Ratschlag für junge Musiker*innen, wie man es schafft, in so vielen verschieden Bereichen so kompetent und erfolgreich zu werden?

Grundsätzlich finde ich es schwierig, Ratschläge zu geben.

Aber es gibt natürlich immer große Gefahren, wie zum Beispiel, dass man seine Authentizität verliert. Das musste ich selbst auch lernen als Dirigent. Du wirst von vielen beobachtet, hast 90 wunderbare MusikerInnen vor dir, die sich denken: „Dann zeig a mal, was du kannst!“. Da kann man in Versuchung geraten, sich anders zu geben als man eigentlich ist. Und das kann ich jedem Menschen nur empfehlen: Bei aller Professionalität, die du dir aneignen kannst, bleib authentisch! Sei so, wie du für dich ganz ehrlich bist und sei kein Schauspieler vor anderen - das ist nicht notwendig. Dieser Weg braucht Zeit, aber es ist der richtige Weg. Die Menschen werden sofort herausfinden, wenn etwas nur „fake“ ist oder nicht. Und wenn sie es auch nicht genau identifizieren können – sie spüren, dass da irgendetwas ist, das nicht ganz echt ist. Wir wissen ja von früher (heute ist das viel weniger der Fall), dass Dirigenten auch manchmal Diktatoren sein können und sich Mechanismen aneignen, mit denen sie die Musiker auch fertig machen können. Wenn man persönlich mit ihnen spricht, sind sie ganz liebe Menschen, aber vor dem Orchester glauben sie, anders sein zu müssen. Das ist nicht gut. Man muss seine Persönlichkeit finden und die Erfahrung machen, an sich selbst zu arbeiten.

2022 soll Ihre Orchesterfantasie zu Turandot veröffentlicht werden. Worauf dürfen wir uns freuen?

Die Fantasie wird ganz toll werden – total interessante Musik, die stark von Strawinsky und Debussy beeinflusst ist! Bei Turandot denkt man natürlich erst einmal an „Nessun Dorma“. Aber ich war ganz überrascht, was da für eine große Tiefe und Instrumentationskunst von Puccini gezeigt wird!

Wir haben das Projekt bereits vor 3 Jahren in Angriff genommen, doch als ich die Fantasie fertiggestellt habe, mussten wir feststellen, dass einer der 2 Librettisten, die noch an der Turandot gearbeitet hatten, 1952 gestorben ist - also weit nach Puccinis Tod. Aus rechtlichen Gründen konnten wir sie also leider nicht früher herausgeben. Ich habe dann einer Enkelin von Puccini einen Brief geschrieben, auf den sie mir antwortete, dass sie es sehr gerne erlauben würde, da sie die Elektra Suite gehört und fantastisch gefunden hatte. Aber sie glaubte, dass ihr Großvater diese Musik nur für die Oper geschrieben hat und sie aus diesem Grund die Herausgabe einer Suite nicht erlauben könne. Das war natürlich enttäuschend. Frau Puccini ist im Jahr danach leider gestorben und die Gesetze sind gleichgeblieben. 2022 ist dann Stichjahr und die Konzertbesucher dürfen die Turandot Suite hören. Es sind ungefähr 25 Minuten grandioser Musik. „Nessun Dorma“ wird übrigens nicht dabei sein! Das ist vielleicht schade, aber es gibt so viel großartige Musik in Turandot, die man verwenden kann und die noch nicht so bekannt ist. Ich bin schon sehr neugierig, wenn ich sie das erste Mal dem Publikum vorstellen kann!

Zu Beginn Ihrer Karriere waren Sie bereits sehr verbunden mit der Oper. Sehen Sie sich in Zukunft wieder mehr in diese Richtung gehen als Dirigent?

Meine erste Stelle als Dirigent war ja an der Züricher Oper, dann habe ich die Osloer Oper übernommen und dann die Stuttgarter Oper als GMD. Als ich daraufhin 2008 das Pittsburgh Symphony Orchester als Music Director übernommen habe, bin ich zweigleisig gefahren. Ich habe allerdings gemerkt, dass so etwas an die Substanz geht und für mich nicht wirklich seriös zu machen ist. Da habe ich mich dann entschlossen, die Oper aufzugeben, denn Oper bedeutet meistens eineinhalb oder zwei Monate Vorbereitungszeit. Und mich haben auch vor allem Premieren interessiert, denn ich wollte nie nachdirigieren, sondern eine Oper wirklich von der Pike auf zusammen mit einem Ensemble und einem Regisseur erarbeiten.

Nun hat sich 2020 eine Gelegenheit ergeben, Fidelio in Wien aufzuführen in der 1806 Fassung mit Christoph Waltz als Regisseur. Es war in meiner Heimat, im Beethoven Jahr und im Theater, an dem Beethoven Fidelio, beziehungsweise Leonore, uraufgeführt hat. Diese Gelegenheit habe ich natürlich sehr gerne ergriffen und die Zusammenarbeit mit Christoph Waltz als Regisseur war einfach wunderbar! Das war das erste Mal, dass ich nach fast acht Jahren wieder Oper dirigiert habe. Ich liebe Oper, aber momentan konzentriere ich mich auf Konzerte, für die es ja auch wunderbare Musik gibt.

Sie waren am Anfang Ihrer Dirigenten-Karriere als Assistent von Claudio Abbado tätig. Welche Dirigenten haben Sie noch inspiriert?

Also Sie können sich vielleicht vorstellen, wenn man als Musiker in einem großartigen Orchester spielt und Aspirationen für das Dirigieren entwickelt, dass man dann sein Auge einerseits am Notenbild, und das andere Auge immer wie ein Adler auf den Dirigenten gerichtet hat und sich fragt: „Was kann ich lernen?“. Von allen Dirigenten habe ich etwas lernen können. Auch wenn einer in den Augen mancher vielleicht nicht gerade der grandioseste Dirigent war – dann fragt man sich, „warum funktioniert es bei dem nicht? Was kann ich da lernen? Was macht er falsch?“ Ein anderer wiederum fasziniert durch seine Gestik und wie er die Proben gestaltet. Jeden Dirigenten habe ich für mich analysiert. Ich durfte zwei Jahre Claudio Abbados Assistent sein. Aber ich durfte auch unter Karajan mehrere Konzerte spielen – was für eine großartige Aura, Inspiration und Probentechnik er hatte! Bernstein habe ich als Mensch sehr oft privat sprechen dürfen. Das waren sehr unterschiedliche Dirigiertechniken. Aber ein Dirigent, der mich besonders inspiriert hat, war Carlos Kleiber. Bei meiner ersten Tournee, die ich mit den Wiener Philharmonikern nach Mexiko machen dufte (damals noch als Substitut), hat er dirigiert und da habe ich ihn das erste Mal erlebt. Ich war so begeistert und wollte seine Dirigiertechnik erlernen – die war doch etwas Einzigartiges! Mich hat fasziniert, dass er mit den Händen alles ausdrücken konnte. Das habe ich dann für mich studiert und ich habe diese Technik wirklich erlernt.

Alle Dirigenten haben mich inspiriert und ich konnte von jedem etwas lernen. Carlos Kleiber war sicher der Grandioseste von allen.

Wenn Sie Musik in einem nicht-musikalischen Wort zusammenfassen müssten, welches würden Sie wählen?

Göttlich. Ich darf ja nur ein Wort verwenden! Und das ist auch gut, dass Sie mich zu nur einem Wort zwingen. Musik hat eine unglaubliche Kraft. Und diese Kraft ist, meiner Meinung nach, göttlich und etwas, das uns inspirieren kann. Musik kann Gott nie ersetzen – Gott wird für viele Menschen, die sich für spirituelle Aspekte interessieren, die Nummer Eins sein. Aber Musik ist wahrscheinlich eines der göttlichsten Geschenke, die wir bekommen haben.

Vielen herzlichen Dank, lieber Herr Honeck!

Das Interview führte Maria Sintow-Behrens im Rahmen des Projekts „Programmheftgestaltung“ von Spielfeld Klassik in Kooperation mit dem Institut für Musikwissenschaft der LMU München.